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Claude Cahun: Metamorphoses mise en scène

„Gender is a kind of imitation for which there is no original.“* 

Wie können sie ich sagen? ‚Ich’, ohne zu wissen, wer ich ist. Wer ist dieses Ich? Diese Frage hat mich zeitlebens getrieben. Hatte ich eines entdeckt, machte sich darunter ein neues wenn nicht gar mehrere neue bemerkbar. Auch sie wollten entdeckt werden. Und auf jede Entdeckung folgte eine weitere. Wie sollte ich bei all diesen Facetten wissen, wer ich ist? Nichts festmachen, stattdessen den ewigen Karneval verkünden! Im Nachhinein dann hat man von Selbstinvention gesprochen, ich würde mich selber erfinden. Ich aber meine, das Ich an sich ist eine Erfindung. Das Ich als stringente, als geordnete Grösse. Warum muss ich eine klar definierte Identität haben? Wie viel meiner selbst würde ich verlieren im Ringen um ein Ich, mich beugend dem Zwang nach vermeintlicher Ordnung? Es würde mich distanzieren von mir selbst. Nein, kein Durcheinander, sondern lediglich eine Vielheit von Ichs. Ich bin Entdeckungen. Immer neue Entdeckungen. Ich bin viele. Oder stets ein anderer. 

Ich liebe es, mich zu maskieren. Mich in Kostüm vor dem Spiegel zu fotografieren. Ich als Sujet, Ich als Subjekt. Immer und immer wieder; und mir selbst dabei auf die Schliche kommen. Manchmal hilft mir Marcel dabei. Ich weiss bestens, dass ich hässlich bin, aber ich tu mein bestes, es zu vergessen. Ich mache mich hübsch. In allem, was ich tue, und besonders vor meinem Feind, verhalte ich mich, als wäre ich die schönste Frau auf Erden. Das ist das Geheimnis meines Charmes.      

Veröffentlicht habe ich bis auf eines keine meiner Selbstporträts. Das war um 1930 herum und die Fotografie zeigte mich als weltfremdes Wesen. Jetzt fällt es mir wieder ein, es war Karneval. Ich hatte meine einsamen Stunden damit verbracht, meine Seele zu verhüllen. Die Masken waren so vollkommen, dass es ihnen gelang den Marktplatz des Bewusstseins zu treffen, ohne dass sie sich wieder erkannten. Ihre komische Hässlichkeit verführte mich. Ich benutzte meine niedersten Instinkte, ich adoptierte junge Monster und zog sie auf. Aber die Schminke, die ich dazu benutzte, schien nicht mehr abwaschbar zu sein. Ich rieb so sehr, um die Haut zu reinigen, dass sich diese ablöste. Meine Seele hatte wie ein lebendig gehäutetes Gesicht keine menschlichen Züge mehr. 

Maskerade? In gewisser Weise, ja. Genau genommen aber sind es vielmehr Entlarvungen. Metamorphosen. Unter der einen Maske eine andere Maske. Und darunter wieder eine. Ich werde niemals fertig sein, mich all dieser Gesichter zu entledigen. 

Ich möchte mich selber ergründen, meine Ichs ertasten. Ähnlich wie man unter all den Haaren einen Schädel ertastet. Nicht deshalb rasierte ich mir den Kopf. Mit 17 zum ersten Mal, später dann ein zweites Mal. Und wenn meine Haare nicht millimeterlang waren, dann färbte ich sie mir manchmal. Rosa, zum Beispiel. Oder silbern. Oder golden.  

Die Haare kurz zu tragen war im Übrigen en vogue, damals, und Paris das Zentrum der Avantgarde. Der Typus der sogenannt Neuen Frau war in den Metropolen Europas angeblich geboren, sein Klischee kursierte. Mit einem wachen, kritischen Geist kam man nicht darum herum, sich mit dem Frausein zu beschäftigen. Womit man als Frau und insbesondere als Künstlerin konfrontiert war, beschrieb Jahre danach, genau genommen fünf Jahre vor meinem Tod, Simone de Beauvoir äusserst präzise. Ein Zitat aus ihrer Veröffentlichung wird besonders bekannt werden. „Man ist nicht als Frau geboren, man wird es.“ Gerade als Künstlerin, als schöpfende Frau setzte man sich damals damit auseinander. Wir reagierten, wir kämpften. Unweigerlich. Und wenn es mit der Fotokamera war – obwohl ich mich selbst nicht als Fotografin verstand. Die Fotografie war jung und wir Frauen konnten in diesem Medium von Anfang an mitgestalten, Geschichte schreiben. Das Frausein per se aber interessierte mich wenig. Mich interessierte die menschliche Existenz, das Individuum – und die Tiefen und Abgründe meiner selbst. Kommen wir denn nicht dem Menschsein einen gewaltigen Schritt näher, wenn wir uns losmachen von konstruierten sozialen Kategorien, die es an sich gar nicht gibt? Wenn wir losgelöst von „Frau und Mann“ denken? Lasst uns die Corsagen aufschnüren! Damals konnten wir nicht ahnen, dass das Thema, wenn auch zu keinem genannten Zeitpunkt neu, doch immer aktuell bleiben würde. Und dass Judith Butler viele Jahre später in ihrem Text Gender Trouble in wissenschaftlicher Manier erforschen würde, woran wir Schriftstellerinnen, Surrealistinnen, wir Fotografinnen uns mit künstlerischen Mitteln herantasteten, was auch in uns schlummerte. Von uns Künstlerinnen wird man sich an andere als an mich erinnern. Meret Oppenheim, Dora Maar, Sophie Täuber-Arp, etwa. Das Unbehagen der Geschlechter wird sich noch lange nicht legen. Nicht, solange wir gefangen in den Corsagen von „Mann“ und „Frau“ sind. Dass Identität und das soziale Geschlecht performativ konstituiert werden, wird in den Wissenschaften zum kleinen Einmaleins gehören. Und Butler wird mir aus dem Herzen schreiben, wenn sie festhalten wird: „Die kulturellen Konfigurationen von Geschlecht und Geschlechtsidentität könnten sich vermehren […], indem man die Geschlechter-Binarität in Verwirrung bringt und ihre grundlegende Unnatürlichkeit enthüllt.“ (Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter, Frankfurt a.M.1991, S. 218). 

Aber zurück zu den 20ern in Paris: Sich als Frau der Kunst zu verschreiben, war nicht einfach. Insbesondere an der Seite eines Künstlers nicht. Davon blieb ich glücklicherweise verschont. Mein Leben verbrachte ich an der Seite von Moore. 

Geboren wurde ich 1894, als Lucy Renée Mathilde Schwob in eine jüdische Intellektuellen-Familie hinein. Mein Vater hatte wieder geheiratet und ich war sehr glücklich darüber. Ich hatte mir immer eine Stiefmutter gewünscht. Der Himmel war gut zu mir. Er gab mir durch die Heirat eine Stiefschwester. Ich liebte sie. Ich liebte sie schon lange bevor sie meine Stiefschwester wurde. 1920 liessen Marcel und ich uns in Paris nieder. So nannte sie sich nun: Marcel Moore.  Und ich hatte mich bereits einige Jahre zuvor für den Namen Cahun entschieden, wie meine Grossmutter Mathilde, väterlicherseits. Bei ihr hatte ich Jahre meiner Kindheit verbracht, als meine Mutter psychisch erkrankte. Claude Cahun. Ein geschlechtsneutraler Name. Von nun an war ich das. Nicht nur ein Frauenname war als Künstlerin hinderlich. Frausein an sich war es auch. Zumal eine idealisierte Vorstellung von ‚Frau’ herrschte, die uns Künstlerinnen im Nacken sass: Schwierig zu vergessen und keine Hilfe auf der Suche nach einer persönlichen Identität. Aber damals war ich zu jung, viel zu jung um all das zu verstehen. Und, sicherlich, ich war nie unempfänglich für das ewig Männliche. Ich kann mich weder erinnern, wann ich das erste Mal diese unwiderstehliche Anziehung verspürt, noch wann ich ihr zum ersten Mal erlag. Meine Erinnerung war noch gar nicht geformt. Vielleicht, eines Abends, wenn ich sehr alt bin, bei Kerzenlicht, werde ich mich plötzlich der Anfänge erinnern, nach denen ich so lange gesucht habe, der Anfänge meiner unerklärlichen Neigung. Und an diesem Abend dann, so ausgedorrt und kalt ich dann sein werde, werde ich alles nur zu gut wissen, ich werde nicht fähig sein, mich aufzuhalten. Sie wird dann einmal mehr gegen ihren Körper und ihre Seele sündigen. Wie können Menschen es wagen, mich zu verurteilen, besonders, wenn sie Schwestern haben? Wisst ihr denn, oh ihr Richter, wisst ihr denn was euch erwartet? Wenn es nicht schon geschehen ist. 

Nachts litt ich an Insomnia. Deshalb hätte ich manchmal gern jemanden in meinem Bett empfangen. Ach! wenn ich nur nicht andere hätte ablehnen müssen, selbst die wertvollsten... Ich litt an Insomnia süss und nicht vergebens wie ein Traum. 

Und doch ist es diese eine Sache im Leben; der Traum, der mir schön genug erscheint, bewegend genug, der es verdient,  mich zum Lachen zu bringen oder zu Tränen. 

Ich glaubte, für meine tägliche Gleichgültigkeit ein Ende gefunden zu haben, der Ort und eine Regel, eine Verlängerung meiner Nächte: Kunst. Ah, wie jung ich damals war! Unberührt, tatsächlich, in meiner Seele, künstlerische Fragen beschäftigten mich noch nicht. Dies wird meine Entschuldigung sein. 

Ich verstand die fürchterliche Falle schnell: Maler, Schriftsteller, Bildhauer, selbst Musiker, kopierten das Leben. Anstatt sie zu täuschen – diese ewig währende Braut – war es ihr, als wollte er der treuste und gewissenhafteste sein. Wie konnte ich ihre farbigen Reproduktionen bewundern, Ich, die das Original nie liebte?

Gescheitertes übte manchmal eine Wirkung auf mich aus, jene Porträts, die es schafften, sich von den anderen abzuheben. Ich kaufte den Ausschuss. Wenigstens diese Liebhaber des Wahren waren es, aus Mangel an Besserem: Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun. Aber die anderen, selbstgefälligen Liebhaber des Ideals, erhielten aufrecht, dass sie die Charakteristika der Heldin verfälschten. – Trage Make-up auf, setz eine künstliche Nase auf – kratze es weg, die Fratze darunter tritt wieder zum Vorschein. Die Frau ist immer darunter. 

In Paris unterhielten wir in unserer Wohnung l’atelier du fond, Hausnummer 70, in der Rue Notre-Dame-des-Champs in Montparnasse einen Künstlersalon. Zu unseren Stammgästen gehörten Künstler und Verlegerinnen. Ich schrieb viel, veröffentlichte Essays in Zeitschriften und Zeitungen. Andere Schriftstücke blieben unpubliziert. Was mir besonders am Herzen lag, waren die Theateraufführungen. Mein Gaukelspiel begann im Theater, eines Tages, als sie auf einem Silbertablett ein Gesicht auf bemaltem Karton brachten, mit tropfender roter Farbe – es sah aus wie ein Stück Schweinefleisch vom Metzger. – Eklig! Meine Religion verbietet mir, das schon nur anzuschauen. 

1932 lernte ich André Breton kennen und ich bewegte mich in der Gruppe der Surrealisten, wo auch Salvador Dalì und Man Ray verkehrten. Es ging uns damals um den Boykott der Tradition durch aufsehenerregende Aktionen. Wir forderten eine Neuordnung der Gesellschaft durch die Kunst. In dieser Zeit verlagerte sich das Hauptgewicht von der Dichtung auf die Herstellung von Objekten und auf Fotografie. Selbstporträts entstanden nur wenige, es waren politische Anliegen, die mich in ihren Bann zogen. Ein Jahr bevor wir Paris verliessen, unterzeichnete ich das kollektive Statement der Surrealisten: Il n’y a pas de liberté pour les ennemis de la liberté.

1937 zogen wir, Moore und ich, nach Jersey, auf das Landgut La Rocquaise am Strand von St. Brelade. Ich liess einiges zurück. Auch den Namen Claude Cahun. André Breton besuchte uns oft. 1940, am 1. Juli, besetzten Nazi-Truppen Jersey. Moore und ich begannen, Flugblätter und Plakate mit Anti-Kriegsparolen in Umlauf zu bringen und in Nazi-Zeitungen Collagen einzulegen. Wir unterzeichneten in Deutsch mit „Der namenlose Soldat“. Einmal gar liessen wir am Kirchturm eine Fahne wehen mit der Aufschrift: „Jesus starb für die Menschen, doch die Menschen sterben für Hitler“. Uns verdächtigte niemand. Wir gaben uns als kranke alte Damen in schwarzer Kleidung aus. 1944 fand uns die Gestapo, ich war damals fünfzig. Wir wurden verhaftet und zum Tode verurteilt. Obwohl das Urteil nie vollstreckt wurde, blieben wir bis zur Befreiung Jerseys in Haft. Ich zog zurück in das Strandhaus, wo meine Arbeiten und mein persönlicher Besitz zerstört worden waren. Nach dem Krieg nahm ich wieder Kontakt auf zu André, der zu jenem Zeitpunkt in New York war, und zu anderen Vorkriegsfreunden. Von den Strapazen der Haft aber habe ich mich nie ganz erholt.

Dass meine Arbeiten beinahe vollkommen in Vergessenheit geraten wären, macht mir nichts aus. Prominenz habe ich nie gesucht, nein, ich fand mich vielmehr unwillentlich immer inmitten dieser wieder. Der glücklichste Augenblick meines ganzen Lebens? – Der Traum. Mir vorzustellen, dass ich ein anderer bin. Mir selbst meine Lieblingsrolle vorzuspielen. Bevor ich mich von der Welt lossage, werde ich vor Herod tanzen, weil er an meinem Schlaf interessiert ist und mich meine Träume beschreiben lässt.­ 

Kunst, Leben: Ganz egal, es ist dasselbe. Es ist das, was am weitesten entfernt ist vom Traum – selbst vom Alptraum. Ich hoffe wirklich, dass es Dummköpfe gibt, denen es Eindruck macht. Mich lässt es kalt. 

Lucy Schwob/Claude Cahun stirbt am 8. Dezember 1954 auf Jersey.

 

Der Text bedient sich stellenweise der Montage. Er enthält Passagen aus Claude Cahuns Werk, in erster Linie aus „Aveux non Avenus“ und „Heroïnes“. Die Textfragmente wurden von der Autorin für diese Publikation aus dem Französischen und Englischen ins Deutsche übersetzt.

*Judith Butler